Nutzungsveränderungen in Innenstädten

Zusatztermin

am 01. September 2021 als digitales Format per Videokonferenz

Am 01. September 2021 veranstaltete das Netzwerk Innenstadt NRW einen Zusatztermin des Innenstadt-Gesprächs „Nutzungsveränderungen in Innenstädten“. Themen des vergangenen Innenstadt-Gesprächs im April 2021 waren neue, kreative Nutzungsmöglichkeiten und -modelle für eine lebendigen Innenstadt von morgen. Der Zusatztermin warf fortsetzend einen Blick hinter die „Fassade“ der Innenstädte mitsamt ihren Entstehungsgeschichten und -kontexten: Unter dem Slogan „Jede Zeit schafft ihre Stadt“ wurde eine Reflektion über den Ursprung der Innenstädte sowie die fortlaufend stattfindende Transformation ihrer Aufgaben und Beschaffenheit gewagt, um auf diese Weise eine Perspektiverweiterung auf Nutzungsveränderungen vorzunehmen.

Jens Imorde, Geschäftsführer des Netzwerk Innenstadt NRW, begrüßte die rund 70 Teilnehmer*innen und hieß ebenfalls die Referenten willkommen. Er verwies zum Einstieg darauf, dass Politiker*innen und Mitarbeiter*innen der Verwaltung eine Haltung einnehmen müssten, wie die Innenstädte in Zukunft aussehen sollten, um die Herausforderung bevorstehender Leerstände bewältigen zu können.

Prof. Dipl.-Ing. Rudolf Scheuvens, Dekan der Fakultät für Architektur und Raumplanung in Wien, erläuterte in seinem Impulsvortrag die Entwicklung europäischer Städte im Kontext der vergangenen städtebaulichen Überformungen und Visionen. Er verwies darauf, dass die industrielle Revolution und das Leitbild der autogerechten Stadt erhebliche Auswirkungen auf das Erscheinungsbild der Innenstädte gehabt hätten. So wurden Verkehrswege für den motorisierten Individualverkehrs einschneidend ausgebaut und Funktionen wie Wohnen, Arbeiten oder Versorgung erfuhren eine räumliche Trennung. Diese Prozesse seien bis heute prägend für Städte, erleben allerdings zunehmend Kritik. Sie machen jedoch auch deutlich, dass es Zyklen der Veränderungen in unseren (Innen-)Städten schon immer gegeben hat. Aktuelle Leitbilder in der Stadtentwicklung, darunter etwa Smart City sowie Nachhaltige und Resiliente Stadtentwicklung, würden sich in Zukunft ähnlich stark auf die Innenstädte auswirken. Die Europäische Stadt sei sowohl ein Raum- als auch ein Sozial- und Wertemodell, welches es in bestehende Stadtstrukturen zu implementieren gilt, auch, um neuen Herausforderungen wie dem Klimawandel, der Digitalisierung und der zunehmenden Homogenisierung aktiv begegnen zu können. Auf aktuelle Trends, zu denen die steigende Bedeutung des öffentlichen Raums, eine veränderte Mobilität oder zunehmende Leerstände gehören, solle man mit einer Funktionsanreicherung in den Innenstädten reagieren. Ein erweitertes Zentrenverständnis und eine Neuverteilung des öffentlichen Raums wirken dabei unterstützend. Herr Scheuvens empfiehlt, neue Vielfalt zuzulassen und dem „Undenkbaren“ Gehör zu schenken. Jahrzehntelange Konstituierungen, bspw. der Autoverkehr in der Innenstadt, sollten überdacht werden dürfen sowie neue Bündnisse und Konzepte für die Post-Shopping-City erarbeitet werden. Herr Scheuvens‘ abschließender Apell lautete: „Leerstände in der Innenstadt sollten nicht mehr als Verlust gesehen werden, sondern als Chance“.    

Prof. Dr. Gerrit Heinemann, Leiter des eWeb Research Center an der Hochschule Niederrhein, ging in seinem Vortrag vorrangig auf aktuelle Entwicklungen im Einzelhandel ein und eruierte, welche Möglichkeiten Politik und Verwaltung haben, auf die stattfindenden Veränderungen Einfluss zu nehmen. Die Covid-19-Pandemie und ihre massiven Auswirkungen auf den innerstädtischen Einzelhandel seien lediglich ein Katalysator für Prozesse, welche schon zuvor existiert haben. Zwar ist das Pandemiejahr 2020 das für den Einzelhandel umsatzstärkste Jahr seit dem Zweiten Weltkrieg gewesen, allerdings ist das Umsatzwachstum primär dem unterdessen florierenden Online-Handel zuzuschreiben: Im Vergleich zum Vorjahr kann der Online-Handel im Jahr 2020 ein Einnahmewachstum von 20,7 Prozent verzeichnen, währenddessen der Umsatz des stationären Handels „lediglich“ um 3,7% zunehmen konnte – die Umsätze im Einzelhandelssektor verteilen sich somit neu bzw. anders. Vor allem die Bekleidungsbranche habe einen „kollektiven Sanierungsbedarf“. Für die Zeit nach der Pandemie sei eine Welle von Geschäftsaufgaben zu erwarten. Städte sollten darauf mit einer Konzentration der Einzelhändler*innen auf die Haupteinkaufsstraßen reagieren. Initiativen wie digitale lokale Marktplätze seien hingegen weniger geeignet, da erfahrungsgemäß der nötige Umsatz ausbleibe. Herr Heinemann plädiert dafür, dem stationären Handel Chancengleichheit zu ermöglichen, indem hemmendende Reglementierungen abgebaut (BauNVO, Öffnungszeiten etc.), der Einzelhandel bei der Digitalisierung unterstützt sowie Mieten an Gewinne geknüpft werden. Denn ausbleibende Mietsenkungen induzieren Leerstand. Er empfiehlt weiter, das Residenzprinzip zu überdenken. Für viele Arbeitnehmer*innen sei es heutzutage unmöglich, Händler*innen während ihrer regulären Öffnungszeiten aufzusuchen. Zudem gewinne die interkommunale Zusammenarbeit zunehmend an Bedeutung, um entgegen einem (Städte-)Wettbewerb gegeneinander, Kooperationen miteinander zu initiieren.

In der anschließenden Diskussion kam durch einen Teilnehmer die Frage auf, wie die Verwaltungen in den Kommunen dem Einzelhandel konkret helfen könnten. Herr Heinemann entgegnete, dass Abteilungen geschaffen werden müssten, welche die Kommunikation zwischen Stadt, Vermieter*innen und Mieter*innen moderieren, um gegebenenfalls Mieten zu senken und so Leerstände zu vermeiden. Darüber hinaus seien städtische Immobiliengesellschaften ein geeignetes Instrument, um neue und ergänzende Funktionen in Innenstädten zu integrieren, für welche die aktuellen Mietpreise schlicht zu hoch seien. Hierzu zählen unter anderem Bau- & Fachmärkte, aber auch die Rückführung des Lebensmittel-Einzelhandels in die Innenstädte ist denkbar. Herr Imorde ergänzte, dass in den Niederlanden schon jetzt Händlerumzüge aus der Peripherie in die Innenstädte finanziell gefördert werden.


Ankündigung: Das kommende Innenstadt-Gespräch des Netzwerk Innenstadt NRW am 26. Oktober 2021 (u. V.) vertieft die aufgegriffenen Aspekte dieses Innenstadt-Gesprächs unter dem Titel „Einzelhandel in Innenstädten“ weiter. Thematisch wird u.a. die Konzentration bzw. Verkleinerung von zentralen Versorgungsbereichen aufgegriffen.